Chris’ TV-Tagebuch vom 15. Dezember 2024
„Dürfen wir wirklich nichts mehr sagen? Reden wir darüber!“, lautete das Thema bei der letzten Sendung des wöchentlichen ORF-Polittalks „Im Zentrum“. Eben bis vergangenen Sonntag langjährig moderiert von Claudia Reiterer, war’s zum Schluss eine runde Sache, gewissermaßen ein übergeordnetes Thema für eine Diskussionssendung, formuliert ganz im Stile der scheidenden Moderatorin, wie sie dem Talkformat acht Jahre lang ihren Stempel aufgedrückt hat.
Endlich, nach fast einer Stunde Diskussionszeit: Zustimmendes Nicken von Meri Disoski zu den Ausführungen von Richard David Precht. „Ausgesprochen wichtig“ findet es der deutsche Philosoph, dessen leicht und bekömmlich konsumierbares Set an Weisheiten ich in vielen Punkten teile, dass wir als Gesellschaft schlicht weiterhin miteinander reden. Wie hier fast schon trivial für den Denker aus seiner Düsseldorfer Kemenate, ja überhaupt äußerst zurückhaltend erlebte man Precht am Sonntagabend „Im Zentrum“. Die 274. und letzte Ausgabe von Österreichs bedeutendstem Polit-Talkformat unter der Moderation von Claudia Reiterer hatte also vielversprechende Gäste, die Runde sollte tatsächlich ihre Würze bekommen – wenngleich nicht von jenem Sessel aus, von woher sich viele das wohl versprochen hätten.
Unterschiedliche Akzentuierung – wenig harmonisch
Die beiden Damen unter den Talkgästen waren offenbar auf mehr vorbereitet als tatsächlich kam, vom meistpolarisierenden Gast, der bekanntermaßen kontrovers wahrgenommen wird und dann und wann wahrlich aneckt – in ganz unterschiedlichen „Ecken“, erfrischend gegenläufig zur typischen Politikerin oder zum interessensgeleiteten Lobbyisten, zu Leuten, denen man ohnehin weniger gespannt lauscht beim Vortrag ihrer erwartbaren Positionen. However, konnte es eben zunächst Grünen-Politikerin Meri Disoski nicht lassen, dem recht unspektakulären Eingangsstatement von Richard David Precht gleichmal heftig zu drauflos zu kontern.
Natürlich dürfe man heute noch genauso seine Meinung sagen wie zu früheren Zeiten, befand Precht, der lediglich nüchtern ergänzte, dass sich die Spielregeln von Öffentlichkeit geändert haben – ich meine, auf den Konjunktiv kann an der Stelle verzichtet werden, it’s a fact. Eine Individualisierung und Sensibilisierung der Gesellschaft als positive Entwicklung durch die Sozialen Medien rufe als Kehrseite eine erhöhte Reizbarkeit hervor, die Menschen schneller beleidigt mache und den Debattenraum verengen würde, so Prechts These weiter.
Disoski legte daraufhin sehr viel Wert auf ihren Zugang, der ein anderer sei als jener von Precht: Die studierte Philologin betonte den Fortschritt dadurch, dass in einer Demokratie, in der wir leben, mit den neuen Möglichkeiten auch Minderheiten und Gruppen wie etwa People of Color oder die LGBTQ-Community zu ihren verbrieften Rechten kommen und sich öffentlich besser Gehör verschaffen können. So richtig, diese Ansätze, und gleichzeitig so bemüht in der Aufmachung als Konterpart zu Prechts Diskussionseinstieg.
Breite Bühne gegen Morddrohungen: Haben die Gefühle Schweigepflicht?
Höchste Zeit, als dann Milo Rau zu Wort kam. Der Intendant der Wiener Festwochen wollte sich auf die Frage, wem er sich denn anschließen möchte, nicht festlegen – zu Recht. Für Rau war es ein Leichtes, sich als sympathischer Chefdiplomat der Runde verdient zu machen. Völlig richtig seine Feststellung, dass sich die beiden eingeworfenen Gedankengänge von Precht und Disoski doch keineswegs ausschließen, dass vielmehr beide ihre Richtigkeit haben.
Bemerkenswert, wie die Runde auch nach dieser freundlichen Intervention nie in Einigkeit abzustumpfen drohte. Denn da war ja noch Ingrid Brodnig, als Journalistin und Autorin omnipräsent wann immer es um Neue Medien geht. Man mag darauf eingestellt gewesen sein, dass Precht wieder einmal anecken oder anderen Gästen Redezeit streitig machen könnte – was wird diesem Mann schließlich Rechthaberei und Selbstgefälligkeit nachgesagt?!
Nun: Nachdem Richard David Precht schilderte, wie er in der medial völlig aufgeheizten Coronazeit zuerst von Covid-Leugnern angefeindet und als „Staatsphilosoph“ herabgewürdigt wurde und sich später, als er sich gegen einen Impfzwang insbesondere bei Kindern aussprach, von einem völlig anderen Lager anhören musste, er habe Blut an seinen Händen kleben, beeindruckten Brodnig in ihrer äußerst unpassenden Reaktion nicht einmal die Morddrohungen, von denen Precht in diesem Zuge erzählt hat: „Das klingt total spektakulär, was sie schon alles erlebt haben, nur: Was ist denn passiert? Sie haben gemeinsam mit Markus Lanz einen großen Podcast, den das ZDF herausbringt, Sie haben im ZDF eine Fernsehsendung, Sie sitzen hier in der wichtigsten Diskussionssendung Österreichs“, relativierte, ja ignorierte Brodnig die konkreten Auswüchse vom „Gegenwind“, wie Precht ihn erlebt und beschrieben hat, nur um schnell wieder auf den für den privilegierten Precht eben nicht eingeschränkten Meinungskorridor zurückzukommen. „Reden wir nicht über Gefühle“, plädierte Brodnig in der Folge ebenso deplatziert – es sei nur in Erinnerung gerufen: Nicht um Strafrechtliches, sondern genau um das Gefühl von vielen Menschen, sie könnten ihre Meinung nicht mehr so frei äußern, ging es in der Diskussion, exakt danach wurde Precht entsprechend gefragt, gleich eingangs.
Ein (netter) Zwischenton (zu viel) – selbst der Diplomat eckt an
Nicht auszudenken die Reaktionen, hätte umgekehrt Brodnig von derlei erschütternden Erfahrungen berichtet und hätte sie Precht mit Berufung allein auf ihre breite mediale Bühne so lapidar abgetan …
So unsensibel Brodnig für das Empfinden des Philosophen war, so sensibel war sie übrigens für sich selbst: Milo Rau kam während Brodnings Ausführungen lediglich ein zustimmender Zwischenton aus, auf den hin sie sofort einen Versuch der Unterbrechung witterte: „Darf ich reden? Danke!“
Persönlich höre ich Expertinnen, zu denen Ingrid Brodnig auf thematisiertem Gebiet unbestritten gehört, per se sehr gerne zu, weshalb ich bereit bin, auch ausschweifenden Erklärungen und Gedankengängen – gerne auch demonstrativ mit dem Blatt Papier und weisem Stift in Händen – meine gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Nur, dieser war für mein Dafürhalten gewiss nicht ihr bester Auftritt, und es sei mir – zugegeben, als bekennender Precht-Fan und regelmäßiger Hörer seines Podcasts mit Markus Lanz – die Bemerkung erlaubt: Wenn es in dieser Sendung Anflüge von Selbstgefälligkeit gegeben haben sollte, dann bestimmt nicht von Richard David Precht …
Späte Eintracht und die Erkenntnis: Reden – ja, wir dürfen noch!
Unterm Strich haben sich vier kluge Köpfe untereinander heftiger konfrontativ abgeklopft als man das vermutet hätte bei einem Thema, wo man angesichts des Podiums befürchten konnte, dass für eine spannende Debatte jemand aus den Reihen der üblichen Widersacher fehlt. Nur ganz am Ende gab’s ein kleinwenig Eintracht: für Richard David Prechts eingeforderte Resilienz von Debattenteilnehmern angesichts geänderter Diskursnormen, und sowieso für Disoskis Forderung, Themen von nun Gehör findenden Gruppen nicht direkt wieder ins Lächerliche zu ziehen, Sexismus und derlei Übel keinesfalls zu tolerieren, etc. – erstaunlich viel Reibung, aber glücklicherweise doch kein Widerspruch, wo es keinen Widerspruch geben darf.
Die Begriffe „Cancel Culture“ und „Wokeness“ sind gefallen und erklärend allen voran von der Moderatorin selbst aufgedröselt worden – Chapeau, Frau Reiterer. Fachlich nach Medienwissen verliefen die verbalen Infights sonst lange Zeit dünn. Spät aber doch schafften es die ganz zentralen Filterblasen, welche sich über Soziale Netzwerke unseligerweise bilden, wenigstens genannt zu werden. Dort und da wäre es der Erkenntnis dienlich gewesen, mehr in die Logik jener Medien direkt zu gehen, die heutzutage zur Verfügung stehen – Stichwort Algorithmen – anstatt die Tiefe in einzelnen Debatten zu suchen, die dort geführt werden – von Corona bis Donald Trump.
Einer souveränen Moderatorin bescherten ihre Talkgäste zum Abschluss eine sehr lebhafte Runde, die dafür gar nicht so sehr befeuert werden musste. Nach einer Stunde angeregter Diskussion gebührten die letzten Minuten einem kleinen Rückblick auf acht Jahre „Im Zentrum“ unter Claudia Reiterer und viele Jahre mehr Polittalk Sonntagabend im ORF: Das gab es unter gehabtem Sendungstitel seit April 2007, überhaupt bereits seit 1997. Durchschnittlich brauchte es die Sendung in der Reiterer-Ära auf 454.000 Seher:innen pro Folge, zu denen Milo Rau per Festwochen-Vergleich schon während der Debatte beneidend aufblickte, und 21 Prozent Marktanteil. Heuer sank dieser Schnitt auf 339.000, zwei Prozentpunkte Marktanteil wurden eingebüßt – ganz üblicher Tribut an einen zunehmend umkämpften Markt, an eine Fragmentierung in der auch Leitmedien um ihre Leuchtturmposition ringen müssen.
Talk im ORF: Im Jänner reden wir weiter
Ein politisches Talkformat am Sonntagabend lässt der ORF freilich folgen. Man darf gespannt sein, wie sich dieses im adaptierten Kleid und mit der neuen Moderatorin Susanne Schnabl ab 12. Jänner 2025 gestaltet. In bester Erinnerung behalten werde ich den nahbaren, einladenden und zugleich sinnerfüllten Schlussappell von Claudia Reiterer, mit dem sie seit 2015 ritualmäßig auf reichlich „Anschlusskommunikation“, wie wir in der Kommunikationswissenschaft sagen, abzielte – daran erlaube ich mir, Anleihe zu nehmen …
Denn das Ende von „Im Zentrum“ ist zugleich diese Premiere von Chris’ TV-Tagebuch, die ich gerne mit den Worten der sympathischen Fernsehmoderatorin schließe, welche zum ultimativen Ende ihres Formats nochmal besonders passend daherkommen, zumal wir ja erfahren haben, dass wir alle weiterhin dürfen:
Reden Sie darüber!